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Marlitts Erzählung „Die zwölf Apostel” wurde 1865 veröffentlicht. Der Schauplatz der Erzählung „Die zwölf Apostel” befindet sich in einem Kloster und in geheimnisvollen unterirdischen Gängen, wie es sie in Arnstadt tatsächlich gibt, wo Eugenie Marlitt geboren wurde. Dieses Städtchen, welches im Herzen von Thüringen liegt, hat der Autorin zahlreiche Anregungen für ihre bis heute viel gelesenen Romane geboten. Eugenie Marlitt gilt als erste Bestsellerautorin der Welt.
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Eugenie Marlitt
Die zwölf Apostel
Warschau 2018
Inhalt
Am äußersten Ende einer kleinen mitteldeutschen Stadt, da, wo die letzten Gäßchen steil den Berg hinaufklettern, lag das große Nonnenkloster. Es war ein unheimliches Gebäude mit seinen eingesunkenen Fenstern, seinen kreischenden Wetterfahnen und den unaufhörlich um den First kreisenden Dohlenschwärmen. Aus dem Mauergefüge quollen dicke Grasbüschel, und zwischen den zerbröckelten Steinzieraten über dem gewölbten Torweg nickte ein kleiner Wald von Baumschößlingen. Wie zwei altersschwache Kameraden, deren einer den andern stützt, lehnten sich der Bau und ein uraltes Stück Stadtmauer aneinander, und das war vorteilhaft für das Kloster, denn die Mauer war sehr dick; man hatte ihren breiten Rücken mit Erde belastet, und nun sproßte und blühte es da droben so üppig, als gäbe es keine Mauersteine unter der Erdschicht. Freilich war das Ganze nur ein längliches Blumenbeet, von einem kaum fußbreiten Weg durchschnitten; dafür war es aber auch saubergehalten wie ein Schmuckkästchen. An den Wegrändern blühte ein Kranz weißer Federnelken; Lilien und Nachtviolen standen auf dem Beet, und die glühroten Früchte der Erdbeeren, samt ihren breiten, gezackten Blättern, mischten sich mit dem wilden Thymian, der, am Mauerrand hinabkletternd, seine feinen Zweige behutsam in die Steinritzen legte. Hinter der Mauer lag der ehemalige Klostergarten, jetzt ein wüster ungepflegter Grasfleck, auf dem die wenigen Ziegen der Klosterbewohner ihr karges Futter suchen durften. Aber an der Mauer selbst stand eine ganze Wildnis von Syringen und Haselstauden; die bildeten droben am Gärtchen eine grüne undurchdringliche Wand. Die Syringen hingen im Frühjahr ihre blauen und weisen Blütentrauben über das einzige hölzerne Bänkchen des kleinen Gartens, und ein alter Kastanienbaum breitete seine Äste weit über die Mauer bis in die Straße hinein, deren armselige Häuserreihe hier mündete und von dem letzten Haus nur die Rückwand ohne Fenster sehen ließ.
Es würde wohl nie ein fremder Fuß diesen entlegenen, sehr wenig einladenden Stadtteil betreten haben, wenn nicht das alte Kloster ein Juwel neben sich gehabt hätte, ein köstliches Denkmal längst versunkener Zeiten, die Liebfrauenkirche, um deren zwei schlanke Türme eine ganze reiche Sagenwelt webte und blühte. Die Kirche stand unbenutzt und verschlossen, und nie mehr seit dem letzten Miserere der Nonnen hatten heilige Klänge durch die mächtigen Säulengänge gerauscht. Die Ewige Lampe war verlöscht; die Orgel lag zertrümmert am Boden; um den verlassenen Hochaltar flatterten Schwalben und Fledermäuse, und die prächtigen, anspruchsvollen Grabmonumente alter untergegangener Geschlechter ruhten unter dichten Staubschichten. Nur die Glocken, deren wundervolles harmonisches Zusammenklingen in der ganzen Gegend berühmt war, schwangen sich noch allsonntäglich über den verwaisten Hallen, aber ihr wehmütiger Klang vermochte nicht die Gläubigen dahin zurückzuführen.
Daß man neben diesem Prachtbau mit seinen granitnen Mauern und Säulen das hinfällige Kloster stehen ließ, hatte seinen Grund in der weisen Ökonomie der löblichen Stadtbehörde. Es hatte längst seine eigentliche Bestimmung verloren. Luthers gewaltiges Wort hatte auch hier die Riegel gesprengt. Die zur neuen Lehre bekehrte Stadt duldete die gottgeweihten Jungfrauen, bis die letzte derselben eines seligen Todes verblichen war; dann aber fiel das Klostergebäude der Stadtverwaltung anheim, die es einem Teil der Armen als Asyl einräumte. Seit der Zeit sah man hinter den vergitterten Fenstern statt der bleichen Nonnengesichter bärtige Züge oder den Kopf einer emsig flickenden und keifenden Hausmutter, während auf den ausgewaschenen Steinplatten des Hofes, welche früher nur die leise Sohle und die klösterliche Schleppe der frommen Schwestern berührt hatten, eine Schar wilder zerlumpter Kinder sich tummelte. Außer dem blühenden Gärtchen auf der Mauer aber hatte das alte Haus noch eine freundliche Seite, auf welcher der Blick ausruhen konnte, wenn er all das hier zusammengedrängte menschliche Elend gesehen hatte. Die Ecke, an welche die Stadtmauer stieß, zeigte vier sauber gewaschene Fenster mit weißen Vorhängen, von denen das letzte so auf das Gärtchen mündete, daß es bequem als Tür benutzt werden konnte, was jedenfalls auch geschah, denn an gewissen Tagen in der Woche war es weit geöffnet. Ein Seil voll feiner Wäsche zog sich von da zum Kastanienbaum, und man konnte sehen, wie eine weißliche Gestalt, die aufgesteckte Schürze voll Klammern, geschäftig aus und ein stieg. Das war die alte Jungfer Hartmann. Sie hieß eigentlich Suschen, wurde aber in der ganzen Stadt schon so lange »die Seejungfer« (Libelle) genannt, daß viele Leute ihren eigentlichen Namen gar nicht mehr wußten. Und das kam von ihrem absonderlichen Äußern, nicht etwa um ihrer flüchtigen Grazie oder Farbenschönheit willen – die haben mit dem sechzigsten Lebensjahr selten mehr etwas gemein –, es geschah vielmehr des seltsam huschenden, scheuen Ganges wegen, mit dem diese lange, gestreckte Gestalt durch die Straßen eilte. Im übrigen glich sie viel eher einer Fledermaus, vermöge ihrer scharfgebogenen, fast durchsichtig mageren Nase, ihrer aschfarbenen Haut und der großen, glanzlosen Augen, welche sich meist schüchtern unter den äußerst dünnen Augendeckeln verbargen. Dieser Eindruck wurde durch das schwarze Bürgerhäubchen vervollständigt, das, knapp anschließend, kein Haar auf der Stirn sehen ließ und zu beiden Seiten abstehende Spitzengarnierungen hatte. Die Seejungfer war das Kind eines sehr armen Schusters, der sie und ihren etwas älteren Bruder Leberecht streng und gottesfürchtig erzogen hatte und für beide Kinder keine kühneren Wünsche hegte, als daß Suschen später im Dienst ihr redliches Brot erwerbe und sein Erstgeborener ihm dereinst auf dem Dreibein gegenübersitzen und das ehrsame Schusterhandwerk betreiben werde. Das stille, sanfte Suschen, für dessen Ideenkreis die engen Wände der Schusterstube vollkommen genügten, war ganz mit dem Lebensziel einverstanden, das der Vater ihr vorgesteckt. Dem jungen Leberecht jedoch wuchsen die Flügel um ein beträchtliches länger, ja, sie reichten sogar bis zur Gottesgelehrtheit hinan. Er besaß glänzende geistige Fähigkeiten, welche ein eiserner Fleiß unterstützte, und so gelang es ihm denn auch, mittels eines Stipendiums Theologie zu studieren. Er hatte bereits sein Examen ausgezeichnet bestanden und einige Male bei großem Zudrang in seiner Vaterstadt vortrefflich gepredigt, als er infolge seiner rastlosen geistigen Tätigkeit auf das Krankenlager sank, um sich nie wieder zu erheben – er starb an der Lungenschwindsucht.
Suschen, die den Bruder wie ein höheres Wesen verehrt hatte, erlag fast ihrem Schmerz, aber sie hatte ein halbverwaistes Kind zu pflegen und zu erziehen; deshalb mußte sie sich aufraffen, was sie auch redlich tat. Mit dem Kind hatte es folgende Bewandtnis. Einmal, als bereits der junge Leberecht täglich nach Prima wanderte und Suschen schon seit längerer Zeit von den ehrbaren Bürgersfrauen mit »Jungfer« tituliert wurde, geschah es, daß sich der Storch »sehr verspäteter- und unnötigerweise«, wie sich der entsetzte Schuster ausdrückte, auf dessen Dach abermals niederließ; seit dem letzten Kind das er tot gebracht hatte, war er neun Jahre ausgeblieben. Mit schwerem Herzen und sorgenvoller Stirn zog die Meistersfrau die wurmstichige Wiege aus dem dunkelsten Bodenwinkel, verjagte die erschrockenen Spinnen aus dem kleinen Bett, fuhr mit einem nassen Tuch über dessen schmale Seitenwände, worauf alsbald grobgemalte Engelsköpfe mit brennendroten Backen und himmelblauen Augen triumphierend erschienen, und stellte es sacht neben ihr Bett, unweit des alten Dreibeins, auf welchem der Schuster mit wahrer Wut eine unglückliche Stiefelsohle behämmerte.
Das half aber alles nichts; die Wiege konnte er doch nicht in Stücke zerhämmern, und später hätte er es wahrscheinlicherweise auch gar nicht getan, denn da lag etwas Niedliches darin. Aber es war gerade, als sei der alte Storch mit einemmal blödsüchtig geworden, und als hätte er die aufgehangenen Leisten in der Schusterstube für Ahnenschilder eines alten erlauchten Geschlechtes gehalten, denn das Kind in der Wiege paßte gar nicht in die eigentlich sehr unschöne Schusterfamilie und sah überhaupt nicht aus wie ein Schusterkind; es lag vielmehr mit seiner blendendweißen Haut, dem zartgoldenen, feinen Haar und den großen, blauen Augen wie eine Prinzessin in den groben Kissen. Dafür wurde es aber auch der Augapfel des Vaters – die Mutter starb bei der Geburt der Kleinen – und ein Gegenstand der unausgesetzten Bewunderung seiner Geschwister. Während der junge Lateiner mit gewandter Feder seine Übersetzungen schrieb, erhielt sein Fuß die Wiege in sanftem Schwunge. Alle weiblichen Schönheiten des klassischen Altertums schmückte seine jugendliche Phantasie mit den feinen Zügen des Schwesterchens, und das erste Lächeln des Kindes begeisterte ihn zu Versen. Suschen dagegen ließ der Kleinen die sorgfältigste körperliche Pflege angedeihen. Sie hielt sie stets fleckenlos sauber und ging nie mehr aus ohne das Kind auf dem Arm, denn die Menschen blieben ja auf der Straße stehen und konnten sich nicht satt sehen an dem reizenden kleinen Blondkopf.
Als der Bruder Leberecht tot war und der Schuster auch bald darauf das Zeitliche segnete, da bezog die Seejungfer die ihr mitleidig gewährte Freistätte im alten Kloster und etablierte sich als Feinwäscherin. Sie brachte nichts mit als ihre unerzogene Schwester, die geringen ererbten Habseligkeiten und ihre arbeitsamen Hände. Was aber die Aufmerksamkeit und besonders den Tadel der gaffenden Klosterbewohner erregte, das war ein netter kleiner Glasschrank mit grünen Wollvorhängen, den die Seejungfer in die neue Wohnung schaffen ließ. Dies Schränkchen enthielt die sämtlichen Bücher des verstorbenen Bruders. Für Suschen selbst konnten diese literarischen Schätze freilich keinen Wert haben, denn sie verstand ja nichts von alldem, was darin stand; allein sie hatte oft genug gesehen, mit welch innigem Behagen der Bruder diese Lieblinge musterte, wie er darbte und sparte, um dies oder jenes heißgewünschte Werk anschaffen zu können. Auf jedem Titelblatt stand sein Name mit der zierlichen Schrift, die sie immer bewundern mußte; aus jedem Buch guckten einzelne Papierstreifen, welche er bei bemerkenswerten Stellen eingelegt hatte; manches steckte noch im schützenden Papiereinband, der sorgfältig mit Oblaten darübergeklebt war, und das waren für sie lauter Heiligtümer, von denen sie sich um keinen Preis der Welt getrennt hätte, lieber wäre sie Hungers gestorben. Deshalb wurde sie aber auch zum erstenmal in ihrem Leben heftig, als die Nachbarinnen ihr rieten, das unnütze Zeug zu verkaufen.
Die Seejungfer lebte von nun an nur ihrer Arbeit und der Erziehung ihrer kleinen Schwester Magdalene, die denn auch im Laufe der Zeit zu einem auffallend schönen Mädchen heranblühte. Suschen betrachtete sie oft mit geheimer Lust und sah sie schon im Geiste als die stattliche Hausfrau eines ebenso stattlichen Bürgers und Meisters. Allein das Schicksal fragt ebensowenig wie ein junges liebendes Herz nach den Plänen einer mütterlichen Liebe und Fürsorge, und so wurde Suschen sehr bald und sehr unsanft aus ihren Versorgungsträumen geweckt.
Nicht weit von der Stadt, in der diese kleine Geschichte spielt, lebte zu jener Zeit auf einem einsamen Schlosse eine einsame verwitwete Prinzessin, in deren Diensten sich, da sie eine leidenschaftliche Kunstliebhaberin war, ein italienischer Künstler befand. Dieser Neapolitaner nun war es, welcher den Strich durch Suschens Zukunftspläne machte. Er war ein schöner Mann mit feurigen, dunklen Augen und kohlschwarzen Locken. Eines Tages sah er die blonde Magdalene Hartmann, wie sie, einen Korb voll feiner Wäsche auf dem Kopfe, durch den Schloßgarten schritt. Alsbald entbrannte er in heftiger Leidenschaft für sie, und als er ihr wenige Wochen darauf, nachdem er verschiedene Male mit ihr gesprochen, in der schattigen Lindenallee des fürstlichen Gartens seine glühende Liebe gestand, da konnte auch sie nicht widerstehen und versprach ihm, wenn auch unter Tränen und heftigen Angstschauern, ihm in seine prächtige, südliche Heimat zu folgen.
Das war ein furchtbarer Schlag für die Seejungfer, als Magdalene ihren Entschluß aussprach und zugleich versicherte, daß sie sterben würde, wenn sie dem Geliebten nicht folgen dürfe. Suschen wollte jammern und bitten, allein infolge der letzten Drohung des jungen Mädchens verschluckte sie die Tränen und ließ es widerstandslos geschehen, daß eines Morgens, nach einer einfachen Trauung, der Bildhauer Beroaldo seine junge blonde Frau in den Wagen hob und für immer der deutschen Heimat entführte. Vierzehn Jahre lang kamen regelmäßig Briefe aus Italien und berichteten wechselnd Glück und Leid, im fünfzehnten aber erschien eines Morgens ein dickes Briefpaket aus Neapel; es war gar nicht Magdalenes Hand, und als es geöffnet wurde, da fiel ein Brieflein der Schwester heraus, in welchem sie die Seejungfer beschwor, sich ihres einzigen Kindes anzunehmen, weil sie sich dem Tod nahe fühle. Dabei lag ein Schreiben der Behörde, welches besagte, daß der Bildhauer Giuseppe Beroaldo samt seiner Ehehälfte an einem hitzigen Fieber und mit Hinterlassung einer achtjährigen Tochter das Zeitliche gesegnet habe. Ein Freund des Verstorbenen wolle das verwaiste Kind bis nach Wien mitnehmen, von wo es aber die Verwandte abholen müsse, sofern sie nicht wolle, daß es einer öffentlichen Anstalt übergeben werde. Zugleich wurde darauf hingewiesen, daß die Eltern völlig mittellos gewesen seien und der Kleinen auch nicht das geringste Erbe hinterlassen hätten.
Anfänglich weinte die Seejungfer bitterlich, dann aber faßte sie sich wunderbar schnell und entfaltete eine ungemeine Energie und Rührigkeit. Sie nahm die Ohrringe der seligen Mutter und die, welche sie selbst an ihrem Konfirmationstage als Patengeschenk erhalten, aus dem sogenannten Heiligtum, einer alten, mit Watte gefüllten Schachtel; dann trennte sie aus dem weißen Bürgerhäubchen, das der Mutter höchster Schmuck gewesen war, den goldgestickten Boden; die dicke silberne Uhr des Vaters und zwölf silberne Westenknöpfe wurden auch dazugelegt. Dies alles trug sie zum Goldschmied und verkaufte es. Hierauf schloß sie das Glasschränkchen auf und nahm – kein Buch –, sondern ein schweres Päckchen mit bebender Hand und feuchtem Auge heraus. Um das Päckchen war ein weißes Papier gelegt, und darauf stand in großen, steifen Buchstaben und sehr unorthographisch geschrieben: »Ich möchte gern für dieses Geld ein ehrliches Begräbnis haben, aber auch einen Leichenstein und darauf soll stehen: Jungfer Susanna Hartmann.« In dem Päckchen befanden sich dreißig blanke Silberstücke, die gaben mit dem Erlös der verkauften Sachen zusammen fünfundvierzig Taler.
Eines Morgens sah man hinter den Fenstern der Seejungfer statt der weißen Kattunvorhänge festanschließende, mit blauem Papier beklebte Fenstereinsätze, und die Blumentöpfe auf den Simsen waren verschwunden. Die Seejungfer hatte sich zum maßlosen Erstaunen der Klosterbewohner aufgemacht, das Kind der verstorbenen Schwester zu holen. Drei Wochen blieb sie aus; da plötzlich, an einem Sonnabendnachmittag, trat die Seejungfer wieder in den Klosterhof, ebenso geräuschlos kommend, wie sie gegangen war. Alt und jung stürzte aus den Türen und umringte die Ankommende, die, scheu und karg wie immer, auf alle Fragen des andringenden Haufens nur erwiderte, daß sie in Wien gewesen sei, und als Beweis dafür auf ein kleines Mädchen zeigte, welches den Kopf ängstlich in den Rockfalten der Seejungfer zu bergen suchte. Es war aber ein merkwürdiges kleines Wesen, das die Alte da mitgebracht hatte, ein wahres »Taternkind« (Zigeunerkind), wie die Nachbarinnen meinten, ein Wechselbalg, vor dem man sich fürchten könne – es sei ganz unmöglich, daß die schneeweiße goldhaarige Magdalene solch ein schwarzgelbes Ding zur Welt gebracht habe. Die Seejungfer sei angeführt worden, das müsse ein Kind einsehen. Und in der Tat, das braune Gesicht der Kleinen, die ziemlich große Nase und der Wust pechschwarzen Haares, der auf eine niedrige Stirn fiel, dies alles hatte auch die Seejungfer erschreckt. Trotzdem konnte sie die Zweifel der Nachbarinnen nicht teilen, denn das Mädchen trug unverkennbar die Züge ihres italienischen Vaters. Es hatte auch seine wunderbar tiefen, glänzenden Augen, deren Schönheit jedoch durch die schwarzen, zu stark entwickelten Brauen sehr beeinträchtigt wurde, welche auch dem Gesicht jede Spur von Kindlichkeit nahmen.
Nach einigen Tagen der Ruhe, welche hauptsächlich dazu benutzt wurden, der Kleinen ein möglichst sauberes, gefälliges Ansehen zu geben, führte die Seejungfer ihren kleinen Fremdling in Begleitung der üblichen Zuckertüte nach der Schule. Die erste Vorstellung fiel, wie die zaghafte Alte richtig vorausgesehen hatte, nichts weniger als glänzend aus. Das Kind hielt krampfhaft die Hand der Muhme umschlossen und fuhr mit dem Kopfe heftig unter deren Mantel, als der Lehrer es anredete. Die sanften Bitten der Seejungfer und die eindringlichen Reden des Lehrers bezweckten nichts weiter, als daß die Kleine sich nur um so tiefer in die Kleider der Alten einwühlte, bis endlich dem Lehrer die Geduld riß und er scheltend das kleine Mädchen unter dem Mantel hervorzog. Da brach aber die ganze Klasse in ein schallendes Gelächter aus, denn der mittels Pomade und Kamm mühsam gebändigte Haarwust hatte sich bei der heftigen Gegenwehr des Kindes aufgelöst und starrte nun nach allen Himmelsgegenden. Zu gleicher Zeit aber erhob die Kleine ein so schmerzliches Geschrei, daß der Lehrer sich zornrot die Ohren zuhielt und die Seejungfer vor Angst am ganzen Leibe zitterte.
Von jenem Tage an war die kleine Fremde sozusagen vogelfrei in den Augen der anderen Kinder. Sie verwarfen ihren Eigennamen Magdalene, der so sanft klang, und nannten sie einstimmig »Tater«, ob auch die Kleine wütend wurde, ihre weißen Zähne zornig wies und mit dem Fuße stampfte. Sie lief meist wie gescheucht nach Hause, der Kinderschwarm lärmend hinterdrein, bis sich die Verfolgte auf einen Eckstein flüchtete, dort die verschränkten, mageren Arme über die Augen hielt und regungslos stehen blieb. Dann sah man nur noch an der kleinen, heftig atmenden Brust, daß noch Leben in ihr war; sie rührte sich dann auch nicht mehr, wenn die wilden Kinder sie an den Kleidern zupften oder mit Wasser bespritzten, und wartete geduldig, bis vernünftige Erwachsene sie befreiten und ihre kleinen Peiniger nach Hause gehen hießen. Bei den Lehrern fand sie wenig Schutz. Sie fühlten keine Sympathie für das unheimliche Wesen, das bei jeder Frage die düsteren Augen wild erschreckt auf sie heftete und nur selten, am allerwenigsten aber mittels Drohungen oder rauher Worte zu einer Antwort sich bewegen ließ. Freilich zeugte dieselbe dann stets von einer merkwürdigen Fassungskraft und von einem klaren Verständnis dessen, was der Lehrer vorgetragen; allein die wenigen Worte wurden gewöhnlich rauh und in fremdklingendem Deutsch hervorgestoßen und von so heftigen Gesten begleitet, daß allgemeines Gelächter entstand.
Seit jenem denkwürdigen Abend, an welchem die kleine Waise aus dem Süden zum erstenmal die Freistätte des Elends betrat, mochten ungefähr zwölf Jahre verstrichen sein – und hier beginnt eigentlich die Erzählung –, als an einem Pfingstsonntag, und zwar gerade als die sogenannte große Glocke mit tiefem, mächtigem Klange in das Nachmittagsgeläute einfiel, ein junger Mann am schmalen Eingang der Gasse erschien, welche nach dem Kloster führte. Offenbar war er dem Geläute bis hierher gefolgt. Er blieb auch einen Augenblick stehen, gleichsam überwältigt von der Macht dieser wundervollen Harmonie. Zwei greise Mütterchen, festlich angetan mit dem silberbetreßten Bürgerhäubchen und in den stattlichen, radförmigen Tuchmantel gehüllt, schritten an ihm vorüber nach der Kirche und grüßten freundlich. Auch verschiedene Fenster öffneten sich, aus denen Männer in Hemdärmeln und Frauen mit der Kaffeetasse in der Hand die neugierigen Gesichter steckten. Der junge Mann aber bemerkte dies alles nicht; das Auge auf den Turm gerichtet, durch dessen offene Luken man deutlich die schwingenden Glocken sehen konnte, ging er langsam weiter bis zu dem Gärtchen auf der Mauer. Dort, durch den Kastanienbaum gegen die brennenden Sonnenstrahlen geschützt, lehnte er sich an das Gemäuer und lauschte bewegungslos. Da erhob sich ein schwacher Luftzug; ein weißes Blatt flatterte vom Mauerrand herab zu seinen Füßen, zugleich lief eine weibliche Gestalt droben durch das Gärtchen und verschwand in dem offenstehenden Fenster. Die Erscheinung war flüchtig und lautlos vorübergeglitten wie ein Schatten. Der junge Mann hatte nur einen fein geformten Hinterkopf mit einem prächtigen bläulich-schwarzen Flechtengewirr und einen entblößtem, schön gerundeten Arm gesehen, der das Fensterkreuz umschlang, während der schlanke Leib sich in das Innere des Hauses bog, allein in dieser einen Bewegung lag so viel jugendliche Anmut, eine so schlangengewandte Biegsamkeit, daß der Beobachter drunten auf der Straße ohne Zweifel auch ein dazugehörendes Gesicht voll Liebreiz voraussetzte, denn er musterte sofort mit großem Interesse die Fensterreihe mit den weißen Vorhängen, hinter deren einem jedoch nur das scharfe Profil der Seejungfer sichtbar war, wie sie, die Brille tief auf die Nase herabgedrückt und das Gesangbuch weit abhaltend, ihr Nachmittagsgebet las.
Der Fremde hob das Blatt auf, das noch vor ihm auf dem Boden lag. Es enthielt das flüchtig, doch korrekt mit Bleistift hingeworfene Porträt einer Frau, ein wunderliebliches, aber echt deutsches Gesicht, von lichtem Haar umrahmt, unter dem kleidsamen Schleier der Neapolitanerinnen. Das Blatt war jedenfalls von dem Steintisch droben auf der Mauer herabgefallen, dessen Platte mit verschiedenen Papieren bedeckt war; auch mehrere Bücher lagen dort. Diese Zeichen einer höheren geistigen Beschäftigung samt dem improvisierten hohen Gärtchen voll Blütenduft und Käfergeschwirr sahen merkwürdig genug aus inmitten der zerfallenen, armseligen Umgebung, fast wie ein versprengtes Märchen, das sich in die rauhe Wirklichkeit verirrt hat.
Unterdes hatte das Geläute einen immer mächtigeren Aufschwung angenommen, ein Zeichen, daß es seinem Ende nahte. Der junge Mann sah wieder hinauf nach dem Turmfenster, aber statt der schwingenden Glocken erschien jetzt eine helle Gestalt in der schmalen Öffnung, es war dieselbe Erscheinung, die vorhin so rasch über die Mauer gehuscht war. Der Fremde hatte nicht so bald dies bemerkt, als er auch das Kloster und die Kirche umschritt und die alte ausgetretene Steintreppe des Glockenturmes hinanstieg. Als er oben war, fiel sein erster Blick auf die Gestalt im Fenster, und überrascht blieb er stehen. Es war ein junges Mädchen, das da still und regungslos mit gefalteten Händen auf dem Sims saß. Das Spitzbogenfenster mit seinen fein gemeißelten Arabesken umschloß sie wie ein enger Rahmen, und gegen den tiefblauen Himmel draußen, der sich erst in weiter Ferne auf einen schön geschwungenen, in zartes Violett getauchten Bergrücken legte, zeichnete sich ein bewundernswürdiges Profil ab, rein und tadellos in der Form und von einem hinreißenden Ausdruck beseelt.
Der Blick des Fremden, der unverwandt und erstaunt auf dem Gesicht haftete, schien indes etwas wie eine magnetische Kraft zu besitzen, denn das Mädchen wandte plötzlich den Kopf nach innen. Ihr dunkles Auge öffnete sich weit und starrte ihn einen Augenblick an, als käme er aus der Geisterwelt, dann aber sprang sie mit einem Schrei vom Sims herab, barg den Kopf in beiden Händen und rannte in dem schmalen Gange, der zwischen den Glocken und der Mauer blieb, wie in Todesangst einen Ausweg suchend, auf und ab. Da es jedoch den Anschein hatte, als ob sie sich in ihrer Verwirrung zwischen das sausende Erz stürzen wolle, so lief ein alter Mann hinzu, welcher sie am Arme faßte und, um das Glockengebraus zu übertönen, ihr heftig und laut in die Ohren schrie. Sie aber riß sich los und eilte mit Blitzesschnelle und abgewendetem Gesicht an dem Fremden vorüber, die Treppe hinab, wo sie alsbald in der unten herrschenden Dunkelheit verschwand.
Dies alles war das Werk eines Augenblicks gewesen. Zugleich erschollen die letzten Glockenschläge mit fast betäubender Gewalt, um bald darauf hinzusterben in ein schwaches, unregelmäßiges Klingen, das zuletzt als wehmütiges Tongeflüster in den Lüften verschwamm. Dann hingen sie still und dunkel da, die Glocken, mit gebundenen Schwingen den Klangreichtum in sich betrauernd, weil er schweigen muß nach dem Willen der kleinen Menschen da drunten. Aber noch lange nach ihrem Verklingen, selbst wenn der schwächste Ton ausgezittert hat, ist es, als entströme ihnen ein unsichtbares Leben, als zögen die Geister der abgeschiedenen Klänge leise dem Strome nach, der mächtig hinausflutet und, in Millionen Arme geteilt, an die Menschenbrust schlägt; er rauscht an das verstockte Gemüt, das sich grimmig wehrt und windet unter der unabweisbaren Mahnung, und löst sich harmonisch auf in der spiegelklaren Flut, die wir »eine reine Seele« nennen.
Mehrere Männer, welche das Geläute besorgt hatten, waren indessen von den Balken herabgestiegen und gingen grüßend die Treppe hinab, indem sie ihre Röcke anzogen. Jener alte Mann aber, der mit dem Mädchen gesprochen hatte, zog höflich seine Mütze vor dem Fremden, wobei ein ehrwürdiger, schneeweißer Scheitel sichtbar wurde, und sagte mit einem eigentümlich gutmütigen Anflug in der Stimme: »Was hat denn der Herr dem Lenchen getan, daß sie so ganz außer Rand und Band war? Um ein Haar wär' sie von den Glocken erschlagen worden.«
»Sehe ich denn aus wie ein Mädchenverfolger, alter Jakob?« fragte lächelnd der junge Mann.
Der Alte blickte erstaunt auf. »Der Herr kennt mich?« fragte er und sah dem Fremden forschend ins Gesicht, während er die dicken, weißen Augenbrauen zusammenzog und die Hand schützend vor die Augen hielt, um besser sehen zu können.
»Es scheint, ich habe ein treueres Gedächtnis für meine alten Freunde als Ihr... Wie könnte ich wohl den Mann vergessen, der alle meine tollen Knabenstreiche unterstützte, der mir manchen Apfel vom Baume geschüttelt hat und mich gern als zweiten Reiter auf meines Vaters Braunem duldete, wenn er ihn nach der Schwemme ritt!« erwiderte der Fremde und reichte dem Alten freundlich die Hand.
»Herr Jesus!« rief der alte Mann. »Nein, wie kann man aber auch so blind werden! Ja, das Alter, das Alter... Na, das ist eine Freude!... Hätt' nicht gemeint, den jungen Herrn Werner in meinen alten Tagen noch einmal zu sehen... Und wie groß und stattlich Sie geworden sind... Jetzt müßte die sel'ge Mutter kommen, die würde wohl Augen machen, wenn sie ihr Herzblatt sähe! – Bleiben Sie denn nun aber auch bei uns?«
»Fürs erste, ja... Nun sagt mir aber, wer ist denn das Mädchen, das hier am Fenster saß?«
»'s Lenchen, der Seejungfer ihr Schwesterkind.«
»Was, der Tater?«
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